Carrara. 2007 

Seine Fotografien handeln, so unterschiedlich die bisherigen Werkgruppen auch ausgefallen sind, von den Geschichten, die sich hinter den Bildoberflaechen befinden. Er fotografiert Sachen, Dinge, die Menschen geschaffen, die sie benutzt und die sie als Spuren, als Rueckstaende gelebten Lebens hinterlassen haben, Relikte also. Seine Bilder verlangen vom Betrachter Wissen und gleichermaßen Einfuehlungsgabe, damit er hinter den fotografisch erfassten Oberflaechen das Geschehene erkennt. Darf es da verwundern, dass Bertram Kober mit Carrara, das er 2002 auf einer Reise erstmals kennenlernte, ein Thema gefunden hat, das ihn auf der Stelle faszinierte. Carrara, dieser im Dreieck von Genua, Padua und Pisa liegende toskanische Ort in den Apuanischen Alpen, ist bekannt fuer seinen Marmor, ein Ort, an dem seit der Zeit der Roemer Marmor gebrochen wird, wo alles das, was heute zu sehen ist, in Verbindung mit unserer abendlaendischen Kultur steht. Mithin summiert dieser legendaere Ort mit seinen unendlichen Geschichten genau das, was Bertram Kober anspricht und woran er dann waehrend weiterer Besuche 2005, 2006 und zuletzt 2007 gearbeitet hat. Das will heißen, er hat sich parallel zum Fotografieren auch mit der Geschichte und den Verhaeltnissen vor Ort eingehender beschaeftigt, getreu der Maxime, wonach der Fotograf kennen sollte, was er mit der Kamera bannen will. …
Anlass zur Verklaerung des Gesehenen gaebe es genug, wie den Verweis auf die beruehmtesten Bildhauer, die sich hier in frueheren Zeiten ihre Steine fuer ihre Meisterwerke geholt haben. Bertram Kober bewegt sich auf der Ebene einer nuechternen Bestandsaufnahme, was nicht mit Emotionslosigkeit verwechselt werden darf. Ganz fraglos reizt er die mit dem Großformat gegebene optische Praezision ebenso aus wie die Moeglichkeiten der farblichen Differenzierungen. Folglich erreichen seine Bilder ein Hoechstmaß an faktischer Konkretion. Der Betrachter kann sich in jedes Detail vertiefen und ungeahnte Entdeckungen machen, die allesamt mit den Eigenheiten der Region zu tun haben. Doch mehr als das bisher in seinen frueheren Bildserien Anklang, gehen die in gleichbleibender Praezision aufgenommenen Motive in die Abstraktion ueber, wenn sich die Bildflaechen gewissermaßen aufloesen und der Betrachter den realen Bezug verliert und nur noch Flaechen und Farben mit unverkennbar aesthetischen Reizen sieht. …
Wir erkennen die Landschaften und Berge nicht mehr als das, was sie mal waren, sondern sehen lediglich den Zustand, wie er sich nach Jahrhunderten intensiven Abbaus eingestellt hat. Dieser ist nicht mehr in sito zu erkennen, sondern nur noch dessen Resultat. Dass es den edelsten Marmor, den weißen, sprichwoertlichen Carrara-Marmor, den marmo statuario, schon nicht mehr gibt, ist dafuer vielsagendes Indiz. Insofern schwingt - und das ist die gewichtige emotionale Komponente dieser Bildserie - in der Erhabenheit der fotografierten Totalen ein Missklang mit, der sich in den Detailansichten noch verstaerkt, denn wir blicken auf die offenen Wunden der vom Menschen geschundenen Natur, so verfuehrerisch schoen diese auch aussehen mag.


Enno Kaufhold
Auszug aus: Das Ende eines Mythos: Carrara In: Bertram Kober – Carrara. Kerber Verlag. 2007. Seite 72
 
Im Jahr 2002 besuchte ich zum ersten Mal die Stadt Carrara und einige Marmorbrueche. Die Region hadert mit ihrer Tradition, dachte ich bereits mit dem ersten Eindruck. In der Antike, in der Renaissance, im Barock und in der Moderne: Der Marmor war immer einer der werthaltigsten Werkstoffe geblieben. Der Status von Statuen aus Carrara-Marmor scheint bis heute unerreicht. Die Stadt Carrara hingegen ist glanzlos. Profitiert nicht von ihrer Geschichte. Plagiate von David, Venus, Kruzifixen und Madonnen - aus Marmorstaub gegossen - werden als Massenware in den Souvenirshops feilgeboten. Die ueberquellenden Schaufenster und Regale, das weiße Figurentheater zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Im Hintergrund nahm ich jedoch stets die bizarre Bergbauwelt wahr. Denn die ueber zweitausend Meter hohen Berge der Apuanischen Alpen erzeugen im Fernblick Erhabenheit. … Der reinste Marmor - jener der den meisten Gewinn bringt - ist weit oben unter den Gipfeln verborgen. Das Entbergen geschieht durch Bohren und Saegen, manchmal auch durch Sprengen. Den Abtransport uebernehmen Radlader, Bagger und schwere LKW`s. Auf ihnen donnern die tonnenschweren Marmorbloecke in die Ebene, durch die Stadt, zum Hafen. … Was frueher Jahrhunderte dauerte, wird jetzt in Monaten bewegt. Fuer die Carrareser Marmorbrueche heißt das: In 2000 Jahren Abbaugeschichte wurde nicht so viel abgebaut, wie in den letzten dreißig Jahren. Was uebrig bleibt: ein ausgehoehlter Kadaver; ein leerer, aufgerissener Berg. Der groeßte Teil des abgebauten Marmors wird als "edler" Baustoff verwendet. Das heißt, aus ihm werden Fensterbaenke, Bodenfliesen oder Fassadenverkleidungen gefertigt. Die Kuenstler verwenden nur marginale Mengen fuer ihre Produktion. … Bedraengt wird die Carrareser-Marmor-Industrie nicht nur von eigenen Gegebenheiten. Von viel weiter weg droht ernsthafte Gefahr: aus UEbersee, aus Asien. Denn dort, z.B. in China, wird alles viel billiger produziert. Auch dort gibt es Marmorvorkommen, sogar rein weißen. Und Europa ist bereits als Markt dafuer entdeckt. Die oekonomischen Spielraeume werden also immer enger. Mit jeder Reise in die Apuanischen Alpen, mit jedem neuen Aufstieg in die Marmorbrueche verstaerkten sich meine Gedanken vom entschleunigten Bergbau und einer anderen, moeglichen Erwerbsquelle fuer Carrara. Eine, die noch etwas uebrig ließe, vom Stolz der Region, von der traumhaft schoenen Marmorbergwelt, nahe des Meeres, so voller bizarrer Schoenheit und hoheitsvoller Geschichte. Warum sollen nicht Touristen mit Seilbahnen ueber die Berge schweben und in den Marmorbruch schauen, den Michelangelo betrieb. Anschließend koennten sie auf einer Terrasse auf dem Campo Cecina Kaffee trinken und die Berge von einer anderen Seite beschauen. Die Stadt Carrara selber koennte wie viele andere Staedtchen am Mittelmeer kleine und große Hotels fuer Touristen haben. Es scheint mir hoechste Zeit fuer Veraenderungen zu sein. Damit der Mythos vom Carrara-Marmor nicht endgueltig gesprengt, zersaegt, gemahlen und zu Sand verarbeitet wird oder als schneeweißer Kies im Baumarkt endet.

 
Bertram Kober
Auszug aus: Das Ende eines Mythos: Carrara In: Bertram Kober – Carrara. Kerber Verlag. 2007. Seite 74

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