Legitime Aspekte des Alltags. 2002 

„Legitime Aspekte des Alltags“. Das sind: berechtigte Ansichten. Immer wieder schoen zu sehen, dass jemand nicht nur Ansichten hat, sondern sie auch noch bereitwillig mitteilt – derlei ist in heutiger Kunst keineswegs mehr selbstverstaendlich zu erwarten. Bertram Kobers Faehigkeit, aus aufgezeichneten Interieurs und Ding-Akkumulationen gesellschaftliche Verhaeltnisse sprechen zu lassen, ohne die - abwesenden - Bewohner, Benutzer und Arrangeure zu denunzieren, kam schon in seiner aelteren Serie „Kulpoche“ schlagend zur Geltung. Juengst hat er erneut geduldig Bilder eingesammelt, die sich ihm boten. Die schlagen nun uns aufs Gemuet: Tod und Devotionalien, Verkehr und Verschmutzung, Haesslichkeit und Ordnung sind in ruhig schoene Bilder gebannt. (Sonst waere wohl kaum anzusehen, was und worauf sie zeigen.) Die Bedeutsamkeit des Banalen – ob im Wimmelbild oder durch die Bildstruktur – immer spricht sie uns an, nur: Was bedeutet sie uns – Die schoene Neue Welt? Weiter so? Immer hoeher, schneller, weiter? Oder memento mori? Kosten des immer noch sogenannten Fortschritts, wohin laufen sie denn, laufen wir? Kobers Kritik ist leise, freundlich, subtil, auch ironisch. Gerade darin liegt ihre Macht und nachhaltige Wirkung. Der Teufel steckt im Detail.

T.O. Immisch
Auszug aus der Laudatio zur Eroeffnung der Ausstellung „Bertram Kober“ im Fotomuseum Leipzig am 19.03.2004

Interview:

C.D.H. Liegt es in Deiner Absicht, provokante Kunst zu machen?
B.K. Nein. Das entspraeche auch gar nicht meinem Charakter. Ich suche eher den Ausgleich, eine foerderliche Auseinandersetzung. Aber ich kann nicht umhin, die eigenen Empfindungen mit der Kamera festzuhalten. Spaeter gelingt es mir, mit den entstandenen Material zielgerichtet umzugehen. Im Laufe meiner Arbeit habe ich mich darauf eingestellt, mir klarer zu werden, was um mich herum geschieht und gelernt wahrzunehmen, was der Zufall mir vorschlaegt. Auf diesem Wege finde ich die Bilder, mit denen ich Wirkung erzeugen kann.
C.D.H. Du gehst also bewusst mit der Provokation des Zufalls um?
B.K. Durchaus. Jedoch kann man den Zufall nicht wiederholen. Aber es passiert bestimmt ein anderer... Ich arbeite so, dass ich zunaechst Bilder sammle, auch in dem Sinne, dass ich schon vor der eigentlichen Aufnahme suche, selektiere und dann zugreife, wenn ein Motiv mich „anspringt“, mich ueberzeugt. Spaeter muenden die unmittelbar entstandenen Bilder, nach gruendlicher Pruefung und Abwaegung in einem kuenstlerischen Kontext. Gueltig bleiben nur die Aufnahmen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch qualitativ als Einzelbilder meiner Kritik Stand halten.
C.D.H. Du arbeitest aber haeufig in Serien?
B.K. Ja. Dabei wirkt eine Fotografie auf die andere ein. Die unterschiedlichen Motive erlangen in der Serie ein erweitertes Moment ihrer Aussagen. Die Serie eroeffnet mir die Moeglichkeit des Praezisierens einer Idee und wenn ich mich zu einer solchen entschließe, dann auf Grund der Vorstellung, dass das Gemeinte damit besser zu transportieren sei. Allerdings niemals im illustrativen Sinne.
C.D.H. Hinter der vorliegenden Auswahl scheint der Anspruch zu stehen, einen realistischen Blick auf sich und die Welt einzufordern.
B.K. Das kann man sicher so sehen. Probleme werden nicht deshalb groeßer, weil man genau hinsieht. Sie verschwinden aber auch nicht, wenn man wegsieht. Sie werden hingegen real. Allerdings besitzt jede der Fotografien verschiedene Gefuehlsebenen. Neben dem bildlichen Aufschrei, manchmal quasi einem UEberfall, gibt es zugleich Momente der Romantik, des Optimismus und von Voyeurismus. Ich versuche dabei, alles Relativierende in der praezisen Form des Bildes aufzuloesen.
C.D.H. Es scheint eine sehr persoenliche Beziehung zu Autounfaellen zu geben, die seit ein paar Jahren eine wiederkehrende Rolle in Deiner Arbeit spielen.
B.K. Ich hatte einen Unfall, bei dem ich verletzt wurde. Das Geschehen hat tiefe Spuren hinterlassen und meine Gedanken ueber ein immer rascheres Vorankommen veraendert. Einen Break erfahren zu haben, sensibilisiert. Auch fuer die Symbolik eines scheinbar ungebremsten Fortschritts.
C.D.H. Sehe ich es falsch oder steht auch der Anspruch dahinter, inmitten des rasenden Alltags sinnliche Freiraeume zu schaffen?
B.K. Ich denke, dass ist sehr komplex. Ich erfasse Ausschnitte der angehaltenen Zeit, mit allem, was mir wichtig erscheint. Sicher gibt es da auch Freiraeume, aber ebenso Elend, Absurdes, Fragwuerdiges und zugegeben, irgendwie auch Provokantes.

Aspekte - Gespraech zwischen der Kunsthistorikerin Christine Dorothea Hoelzig und Bertram Kober In: Legitime Aspekte des Alltags. Verlag Faber & Faber. 2002. Seite 39

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